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Titel
Indien im Sucher. Fotografien und Bilder von Südasien in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, 1920–1980


Autor(en)
Müller, Angela
Erschienen
Köln 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 70,00
von
Schneider Jürg

«Indien im Sucher» positioniert sich als «postkolonial informierte Visual History» (S. 22) in einem Forschungsfeld, das sich mit visuellen (fotografischen) Repräsentationen des kulturell Anderen und deren Rolle im kolonialen Projekt beschäftigt. Müllers Forschung geht aber nicht nur zeitlich darüber hinaus, indem sie sich auf die Periode 1920 bis 1980 konzentriert, also auf das koloniale und postkoloniale, unabhängige Indien, sondern auch, indem sie ihren Blick auf den deutschsprachigen Raum beziehungsweise Deutschland und die Schweiz, richtet, zwei Länder, die in diesem Zeitraum keine Kolonialmächte waren: Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr und die Schweiz nie, obwohl sie in verschiedener Weise in koloniale Projekte und deren postkoloniale Nachwirkungen verwickelt war.
«Davon ausgehend, dass Vorstellungen kolonialer und postkolonialer Verhältnisse wesentlich visuell waren» (S. 12), untersucht Angela Müller «wie Indien im 20. Jahrhundert in fotografischen Veröffentlichungen inszeniert wurde». Sie tut dies anhand verschiedener Fallstudien und konzentriert sich dabei auf «veröffentlichte Fotografien, die in populären Medien publiziert wurden» (S. 15), nämlich «Bildband, Kultur- und Reisezeitschrift sowie illustrierte Zeitschrift» (S. 13).

In sechs Kapiteln führt die Autorin die Leser und Leserinnen aus einer Welt, in der Bilder des fernen Indien noch (fast) ausschliesslich über Printmedien vermittelt wurden und nur wenige Europäer selbst Fernreisen unternehmen konnten, bis in die 1980er Jahre, in denen das bewegte Bild, insbesondere das Fernsehen, zu einem wesentlichen Teil jene einst von den Printmedien besetzte Rolle der Vermittlung und Repräsentation übernommen hatte und immer mehr Menschen es sich leisten konnten, in ferne aussereuropäische Länder zu reisen.

Angela Müller analysiert die Indienberichterstattung in den von ihr ausgewählten Printmedien mit einem wachen Blick auf Konstanten und Veränderungen. Dabei betont sie, dass es sich bei den «Indienbildern», ganz im Sinn einer bestimmten Lesart des Begriffs Repräsentation, «um spezifische Auseinandersetzungen mit Erscheinungen der europäischen Moderne handelt» (S. 12). Die ersten drei Kapitel sind dem «Wunderland Indien» gewidmet, das Müller im Vergleich verschiedener Medienprodukte – «des Fotobuchs, der Reise- und Kulturzeitschriften und der bürgerlichen Illustrierten mit hoher Auflage» (S. 28) – analysiert. In den Fokus rückt im ersten Kapitel der Zürcher Fotograf und Publizist Martin Hürlimann, der mit seinen Arbeiten für den Indienband in der Bildbandreihe Orbis Terrarum und die Zeitschrift Atlantis Indien als zeitlosen Sehnsuchtsort zelebrierte und damit eine Tradition fortsetzte, die schon im 19. Jahrhundert populäre Verbreitung gefunden hatte.

Das zweite Kapitel widmet sich der von Hürlimann herausgegebenen Zeitschrift Atlantis, die zwischen 1929 und 1964 erschien. Die Zeitschrift vermittelte vorab ein modernekritisches Verständnis von Kultur, nicht nur der indischen, sondern auch anderer aussereuropäischer Länder, in einem Format und Konzept, das in der «Verbindung von wissenschaftlicher Informiertheit, literarischem Anspruch und Fotografie» (S. 92) im deutschsprachigen Raum ein Novum darstellte.

Das dritte Kapitel zeigt, wie die Indienberichterstattung in den illustrierten Zeitschriften des deutschsprachigen Raums in der Zwischenkriegszeit einen Wandel erlebte. Das Oszillieren zwischen der Konstruktion und der Dekonstruktion des «Wunderlandes Indien» geschah in der Gegenüberstellung der indischen Gesellschaft, die in ihren Traditionen verhaftet schien und der europäischen Gesellschaften, die als modern und liberal imaginiert wurden. Als Beispiele für die Dekadenz einer überkommenen und in ihrer Religiosität und in ihrem Kastendenken erstarrten Welt zieht Müller die Figur des Maharadjas und des der Welt entsagenden sadhus (hinduistischer Asket) heran, als «zu Stereotypen übersteigerte gesellschaftliche Figuren» (S. 159).

Das moderne Indien und politische Realitäten wie der erstarkende indische Nationalismus blieben jedoch nicht gänzlich ausgeblendet, wie die Autorin im folgenden vierten Kapitel darlegt. Die dominanten Motive und unterschiedlichen Interpretationen des indischen antikolonialen Widerstandes in den Bildmedien werden auch hier wieder in ihrer Ambivalenz aufgespürt. Angela Müller zeigt dies am Beispiel der Figur Mahatma Gandis, über den die Berichterstattung in den illustrierten Zeitschriften zwischen Bewunderung und Exotisierung schwankt.

Das fünfte Kapitel untersucht, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Fokus vom «Wunderland Indien zum Hungerland Indien» (S. 309) verschiebt und richtet seinen Fokus auf die «Konstruktion von Hunger» (S. 321) sowie die zentrale Rolle, die der Schweizer Fotograf Werner Bischof dabei mit seinen Bildern der Hungersnot im nordindischen Bihar in den Jahren 1950 und 1951 spielte.

Mit dem letzten Kapitel kehrt Angela Müller zurück zum Wunderland Indien, nun als Imaginationsort spiritueller Erfahrungen der in den 1960er Jahren aufblühenden Popkultur. Hier schliesst die Autorin an eine der Grundthesen ihrer Forschung an, dass nämlich der deutliche Wandel der Repräsentation Indiens, der in den 1960er und 1970er Jahren stattfand, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Schweiz und Deutschland reflektierte.

Insgesamt legt Angela Müller mit «Indien im Sucher» eine geschickt gegliederte und profund recherchierte Arbeit vor. Wünschenswert wäre vielleicht ein Ausblick auf den englischen und französischen Forschungsstand gewesen, ein Desiderat, das weiterführende Forschungen erfüllen mögen. Der Fülle des Materials geschuldet sind die Quellenanalysen eher zu kurz geraten; man hätte hier eine tiefer gehende Analyse des Bildmaterials erwartet. Trotz dieser Kritikpunkte: ein lesenswertes Buch!

Zitierweise:
Schneider, Jürg: Rezension zu: Müller, Angela: Indien im Sucher. Fotografien und Bilder von Südasien in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, 1920–1980, Wien, Köln, Weimar 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 160-161. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.